Der weibliche Akt sitzt auf einem Stuhl vor einem mit einer Gardine abgeschirmten Fenster. Als Modell diente dem Künstler wieder wie für das Bild Mädchen in Blau(1) die „Rote Unke“. Von hinten und von oben fällt helles Licht herein. Es zeichnet scharfe Konturen und bildet starke Kontraste zwischen beleuchteten und verschatteten Partien: Im Schatten dominieren verhaltene komplementäre Farbklänge von Rosa und Grün im Inkarnat sowie von Gelb und Blau bzw. Blaugrün im hochbeinigen Tischchen vor der Sitzenden und in der Fensterwand dahinter. Das Spiel aus Farben und Licht schafft eine durchsonnte, intime Atmosphäre, die der scheuen Schamhaftigkeit der jungen Frau entspricht. Gleichzeitig vermittelt die kraftvolle, unsentimentale Darstellung des Aktes ein Höchstmaß an unmittelbarer Gegenwärtigkeit. Sowohl das Motiv wie auch der fein abgestufte Farbauftrag und die farbigen Lichtflecken auf dem Körper lassen den Einfluss von Renoir erkennen. Schon Emil Waldmann fühlte sich 1909 in der Ausstellung der Kunsthalle Bremen vor dem damals Bei der Toilette benannten Gemälde an die Frauenbilder von Renoir erinnert und bezeichnete es wegen der „gelassenen Bewältigung der Erscheinung und dem geschlossenen Aufbau der Komposition in Raum und Farbe“ als „reifste Arbeit“ der Ausstellung. „Die Koloristik ist, ohne dass sie sich aufdrängt, sehr eigenartig und reich. Man sagt oft, Tewes zeichne nicht. Das mag sein, mit korrekten Konturen hat er sehr wenig im Sinn. Aber die Beherrschung der Form in dieser Figur ist sehr gut, die Modellierung des Oberkörpers und der Arme lebendig, und der Ausdruck dieses jungen Mädchens, das im Typus seiner gesunden Natürlichkeit etwas an den Typus der Renoirschen Mädchen erinnert, ist ebenso wahr wie bezaubernd. Das Spiel des Halblichts, in das dieser Kopf eingehüllt ist, hat etwas sehr Zartes und Feines.“ (2)
Die positive Bewertung Waldmanns hatte wohl auch zur Folge, dass viele Bilder dieser Ausstellung den Weg in bedeutende Bremer Sammlungen fanden, darunter in die Sammlung von Leopold Biermann und Johann Georg Wolde.(3) Das Gemälde Bei der Toilette wurde zusammen mit dem Mädchen in Blau von dem Bremer Sammler A. Müller erworben. 1913 war es im Folkwang Museum in Hagen ausgestellt; der expressionistische Maler Curt Stoermer nannte es in seiner Besprechung ein „Meisterwerk im traditionellen Sinne“.(4)
Tewes hat in diesem Bild die Pariser Einflüsse von van Gogh, Renoir und des französischen Impressionismus zu einem sehr persönlichen Stil voll heiterer Gelassenheit und mit zupackendem Sinn für die Wirklichkeit verarbeitet. Darin näherte er sich auch anderen französischen Nachimpressionisten wie zum Beispiel Jean Puy an. Das ausgewogene Zusammenspiel von fest gefügtem Bildaufbau, klarer Formgebung und lichter Farbmaterie in dichtem strichelnden Pinselduktus blieb von nun an charakteristisch für seine Malerei.

Katharina Erling

(1) Vgl. auch den Text zu diesem Bild im Besitz der Kunsthalle Bremen.
(2) Emil Waldmann: Aus der bremischen Kunsthalle. Einige neue Arbeiten von Rudolf Tewes, in: Bremer Nachrichten, 12. Dezember 1909.
(3) Im Ausstellungsbuch der Kunsthalle Bremen der Jahre 1906–1913 sind folgende Verkäufe verzeichnet: S. 122: Nr. 564: Pfingstrosen, verkauft für 440 Mk. an Fr. Arens; Nr. 565: Pfingstrosen, verkauft für 440 Mk. an L. Biermann; Nr. 567: Blumenstück, verkauft für 500 Mk. an Dr. Bömers; Nr. 569: Bei der Toilette, verkauft für 400 Mk. an A. Müller; Nr. 570: weibl. Portrait, verkauft für 350 Mk. an A. Müller (hierbei handelt es sich um das Bild Mädchen in Blau, vgl. auch den Text zu diesem Bild); Nr. 573: Wehr bei Samois, verkauft für 250 Mk. an J. G. Wolde; Nr. 574: Seine Landschaft, verkauft für 200 Mk. an Dr. Bömers.
(4) In: Der Cicerone 5, 1913, S. 431.